Flucht oder Widerstand? Der mittlere Weg in Martin Walsers "Ein fliehendes Pferd"

Drew Schultz, Wheaton College, Illinois

Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd schildert die Geschichte von zwei gegensätzlichen Lebensweisen und ihrem Zusammenstoß.  Die Hauptfigur, Helmut Halm, verkörpert ein nach innen gekehrtes Leben; ein Leben mit dem man sich gegen die Unsicherheiten der Welt verteidigen kann.  Klaus Buch, der Gegensatz Helmuts und auch dessen alter Schulfreund, manifestiert ein nach außen gekehrtes Leben; ein Leben das der Welt ins Gesicht sieht, ohne zurückzuweichen.  Walser bringt die zwei Figuren zusammen für einen ungeplanten gemeinsamen Urlaub am Bodenseeort, wo die Männer sich immer mehr nach dem Leben des anderen sehnen.  Die Spannung wächst, und auf dem Höhepunkt der Novelle auf dem Bodensee, dreht Helmut seine Lebensweise um, um Klaus über Bord zu stoßen.  Durch diese Tat und seine darauffolgende Reflexion darüber, beginnt Helmut den Prozess, seinem Leben eine neue Richtung zu geben – eine Verwandlung, die ihn aus dem Gefängnis seiner nach innen gekehrten Perspektive befreit und den Leser zu einer neuen Besinnung herausfordert.  Mit dem kurzen Epigraph von Søren Kierkegaard verrät Walser diese implizite Auslegung der Novelle.

Zusammenfassung der Handlung

Die Novelle beginnt mit dem Gymnasiallehrer Helmut Halm und seiner Frau Sabine, die an einem Tisch sitzen und sich eine vorbeigehende Promenade anschauen.  Plötzlich steht ein sportlicher Mann vor Helmut, anscheinend ein ehemaliger Student, und grüßt ihn wie einen alten Freund.  Dieser Mann nennt sich Klaus Buch, ein alter Schulkumpel aus Helmuts Jugend; er stellt den Halms seine deutlich jüngere Frau Helene vor.  Tief im Hinterkopf findet Helmut Erinnerungen von einem Klaus und erkennt den alten Freund.  Die zwei reden miteinander für ein paar Minuten und, auf den Vorschlag von Klaus, verabreden sich für ein Treffen am selben Abend.

Ein gemeinsamer Abend entwickelt sich zu mehreren Abenteuern in den folgenden vier Tagen.  Die Halms und Buchs machen eine ruhige Segelbootsfahrt, wandern durch die waldreiche Gegend und verbringen mehrere Mahlzeiten zusammen, währenddessen Helmut und Klaus in ihren Erinnerungen an ihre Jugend schwelgen.  Weil beide Frauen Termine am dritten Tag haben sind Helmut und Klaus allein und machen eine zweite Segelbootsfahrt, aber diese verläuft nicht so ruhig. 

Klaus steuert das Boot während er Helmut seine Pläne von einem Ausweg aus seinem Leben und einem neuen Start (gemeinsam mit Helmut) mitteilt.  Als Klaus sich mit jedem Wort seines Vorhabens zunehmend aufregt, zieht ein Gewitter über dem See auf, und Helmut äußert seinen Wunsch, wieder an Land zu sein.  Doch Klaus hört nicht auf Helmuts Bitten und lenkt das Boot weiter in Gefahr.  Helmut sieht keine andere Wahl um seine Sicherheit zu gewährleisten und reißt das Ruder aus den Händen von Klaus, wobei Klaus über Bord geht und anscheinend ertrinkt.

Nach dem „Ertrinken“ von Klaus kommt Helene zu den Halms und beschreibt das schwierige Leben der Buchs, worauf weder sie noch Klaus vorher hingewiesen hatten.  Vor der Ankunft Helenes schien Helmut die Persönlichkeit von Klaus angenommen zu haben, doch je länger Helene über das echte Leben von Klaus berichtet, desto schneller verliert Helmut seine kurzfristige Lebendigkeit.  Überraschenderweise klopft Klaus an der Tür der Halms und holt Helene ab, ohne Helmut oder Sabine ein Wort zu sagen.  Helmut und Sabine beenden frühzeitig ihren Urlaub am Bodensee um einen Zug nach Meran zu nehmen und mit dem ersten Satz der Novelle beginnt Helmut seine Erklärung für Sabine über die ganze Zeit mit den Buchs: „Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß“ (Walser 9, 151).  Mit diesem Satz endet auch die Novelle.

Gegensätze und Ähnlichkeiten: Klaus und Helmut.

Obwohl die Erzählung allein aus der Perspektive der Hauptfigur Helmut geschildert wird, wirkt Klaus Buch als der erforderliche Gegensatz zu Helmut – eine Form von Antithese Helmuts, die trotz der äußerlichen Unterschiede eigentlich sehr ähnlich ist.  Helmut verkörpert den Kontrast von „Schein gegen Sein“ in der Form eines einwärts gekehrten Lebens, womit er sich vor der Welt verstecken kann.  Statt die psychologische Gefahr der offenen Kommunikation zu riskieren, schützt er sich vor der Öffentlichkeit.  „Unerreichbar zu sein, das wurde sein Traum,“ und eine gewisse Distanz von allen Menschen muss Helmut auf jeden Fall haben (Walser 13).  Er liebt die Möglichkeit, andere Menschen zu betrachten und findet es auch sogar gut, mit ihnen zusammen zu sein, aber während des ganzen Prozesses möchte er selber unbetrachtet bleiben.  Ein Einsiedler will er doch nicht werden, einfach weil „Inkognito seine Lieblingsvorstellung [ist],“ sondern er begehrt die Sicherheit vor dem Bekanntsein (Walser 12).  Stimmt es nicht, dass „wenn jemand von ihm noch nichts wusste, ... alles [noch] möglich [war]“ (Walser 13)? 

Weil Halm sein wahres Ich verheimlichen will, aber noch mit Menschen umgehen muss, muss er irgendeine Form haben, die ihn von den anderen trennt.  Deswegen hat er seinen „normalen“ Schein aufgebaut, den er als Wirklichkeit vortäuscht.  Ohne diesen Schein darf er sich niemals bloßstellen, weil so was ihn in die direkte Gefahr eines Urteils von anderen bringen würde, und diese Opferung seiner wahren Selbstdarstellung findet Helmut gerechtfertigt (Plouffe 347).  „Je mehr ein anderer über mich wüsste,“ heißt es in seinem unabgeschickten Brief an Klaus, „desto mächtiger wäre er über mich“ (Walser 37).  Helmut versteht seine Angst vor dem Offensein und erkennt dass sein Schein ein Versuch der Selbstverteidigung ist, aber er fürchtet die Folgen der Offenheit.  Doch hinter dieser Verinnerlichung erkennt die Kritikerin Heike Doane, dass „die asoziale Aktivität, die alle äußeren Einflüsse in der Innenwelt aufheben will, seinem Bedürfnis nach Gemeinsamem [widerspricht]” (75).  Helmut baut sich ein, wo ihn nichts schädigen darf, obwohl er sich dadurch gleichzeitig von dem trennt, was er braucht: jemanden, der ihm hinter seiner Mauer beisteht.

Auf der anderen Seite gibt es Klaus, das Gegenteil von Helmut, der aber auch mit dem gleichen Problem wie Helmut kämpft, doch nur in umgekehrter Form.  Wie Helmut sich mit Verinnerlichung sichert, ohne die Herausforderungen jemals an sein echtes Sein heranzulassen, verteidigt sich Klaus mit einem stark auswärts gekehrten Leben, das Schwierigkeiten abwendet, bevor sie an ihn herankommen können.  Als Klaus Buch der Leserin vorgestellt wird, erfährt man die Spuren eines sorgfältig hergestellten Lebens.  Trotz seines mittleren Lebensalters ist er „überall senkrecht, durchtrainiert, überflußlos“ mit einer „tiefbraunen Brust,“ und seine merkwürdig jüngere Frau Helene ist „wie eine Trophäe“ (Walser 19, 21).  Sogar mit dem ersten Eindruck will er seinen tollen Schein beachtlich gegen sein wahres Sein eintauschen, bevor man die Chance bekommt, etwas von seinem echten Sein zu erfahren. 

Hinter dem trügerischen Schein versteckt sich ein Mann, der auch vielerlei Unsicherheiten hat und diese Schwäche muss er verheimlichen.  Der Klaus enthüllende Monolog Helenes entlarvt sein kompliziertes Sein, dass „alles, was er getan hat, [ihm] furchtbar schwer gefallen [war]“ und dass er „eben fix und fertig“ war (Walser 136, 139).  Im starken Kontrast zu dem wohlhabenden Schein, den er produzierte, konnte sich Buch „kaum so einen Urlaub leisten. Er hat auch im Hotelzimmer jeden Tag noch gearbeitet“ (Walser 138).  Der echte Klaus erkennt seine Unfähigkeit, sich seiner Wirklichkeit zu stellen, und versucht deswegen, ein Leben mit einem selbstgesteuerten Schicksal zu erschaffen.

Dieser Versuch hat aber die genau umgekehrte Auswirkung und erlaubt den Menschen, die den Schein nicht komplett wahrnehmen, als Richter seines Lebens zu gelten.  „Alle Attribute, durch die Buch sich vor Halm präsentiert,“ meint Doane, „werden zum Barometer seines Erfolgs und dadurch für Halm zu Bestätigung von Niederlagen“ (72).  Obwohl er versucht, den Schein diskret aufzubauen, verrät er seine inneren Gedanken trotz seiner äußeren Erscheinung.  Zum Beispiel, bei seinem ironischen Vergleich der Landschaft mit einem alt werdenden Mann, widerspiegelt seine Charakterisierung seine eigene Enttäuschung mit seinem mittleren Alter, wo er sogar nicht mit einem Urlaub zufrieden sein darf (Wilkinson 187). 

Helmut und Klaus wurden im Hinblick auf die Unterschiede bei ihrer jeweiligen Behandlung des „Scheins“ verglichen, wobei sich auch Ähnlichkeiten hinter ihren Gegensätzen verstecken.  Mehrere Kritiker haben die Vermutung der beiden Männern notiert, das Leben des anderen als die Verkörperung seines eigenen vorbildlichen Ideals zu betrachten (Schote 59; Doane 79).  Weder der respektierte Lehrer Halm noch der erfolgreiche Journalist Buch erkennt das Paradox ihrer Wünsche, und beide übersehen dadurch, dass dem Leben etwas fehlt, was nicht aus der Perspektive des anderen vergütet wird.  Für Helmut heißt es, „erst wenn er doppelt lebte, lebte er“ (Walser 80).  Doch dem erfolgreichen „doppelten“ Leben von Klaus entkommt man auch nicht unversehrt.  Erfordert dieses Paradox also einen mittleren Weg?

Das Symbol des fliehenden Pferds

Weil der Titel der Novelle darauf hinweist, erwartet man im Text eine wichtige Verbindung zu dem fliehenden Pferd.  Ein tatsächliches Pferd gibt es nur an einer Stelle des Texts, wo Klaus ein Pferd „in wilder Flucht“ in den Griff bekommt (Walser 88). Doch an anderen Stellen werden Figuren mit dieser Metapher beschrieben.  Die übergreifende Verwendung der Metapher wird von Kritikern ähnlich interpretiert aber unterschiedlich nuanciert; sie wird immer mit beiden Männern verbunden, aber über ihren Zweck wird gestritten. Ulf Zimmermann verdichtet etwa das fliehende Pferd zur Darstellung der blinden eiligen Flucht beider Figuren, um den Einschränkungen der Gesellschaft zu entkommen (281).  Die gesellschaftlichen Einschränkungen verfolgen die Männer und genau wie Klaus die Freiheit des Pferds beendet, so werden auch diese Erwartungen die Figuren endlich einfangen (Pilipp 65-66).  Der feine Unterschied dieser Interpretationen und jener von Doane liegt an der Erkenntnis von einem Ausweg.  Laut ihrer Deutung des Textes lässt sich das Pferd (sowohl Helmut und Klaus) nur noch einmal bändigen, weil es einen neuen Ausstieg sieht.  Klaus nähert sich dem Pferd von der Seite, weil das Tier dadurch keine Gefahr spürt, genau wie Klaus und Helmut glauben, „ihr Weg bleibe frei“ (Doane 78). 

Hinweise auf eine Flucht werden an mehreren Stellen der Erzählung zu verschiedenen Zwecken eingeführt.  Als erstes ist das vorherige Beispiel mit Klaus und dem Pferd zu nennen.  Um es noch einmal zusammenzufassen: Als die zwei Ehepaare eines Nachmittages gemeinsam eine Waldwanderung durch die ruhige Gegend genießen, erscheint plötzlich ein fliehendes Pferd, das in ihre Richtung galoppiert.  Zwei Bauern laufen dem Pferd hinterher, aber sie können das Tier nicht bändigen.  Nur wenige Meter von den Paaren hält das Pferd, wobei Klaus es aufsitzt und den Bauern zurückbringt.  Nach der Episode verkündigt Klaus triumphierend „also, wenn ich mich in etwas hineindenken kann, dann ist es ein fliehendes Pferd...[ihm] kannst du dich nicht in dem Weg stellen.  Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden“ (Walser 90).  Obwohl Klaus an dieser Stelle von einem Tier spricht, gilt seine Einsicht auch für ihn und Helmut.  Die Figuren fliehen, weil sie nur im Blick auf einen freien Weg beruhigt sein können und wenn es diesen freien Weg nicht gibt, „lassen sie mit sich nicht reden.“

Das nächtliche Briefschreiben von Helmut ruft auch das Bild einer Flucht hervor. In einer schlaflosen Nach identifiziert sich Helmut mit der Flucht in einem unabgeschickten Brief an Klaus Buch. „Lieber Klaus Buch, ich sehe ein Missverständnis wachsen“ heißt es am Anfang des Briefes, in dem Helmut mit den Spuren seiner Angst vor der Außenwelt kämpft (Walser 36).  Schon nach ein paar Stunden mit Klaus, spielt Helmut mit dem Gedanken, die offenbare Spannung zu erleichtern.  Doch wegen seine Furcht, seinen „normalen“ Schein zu verlieren, ist es ihm klar, dass „wenn er auch nur einen einzigen Satz dieses Briefes ernst meinte, hieß das, dass er ihn nicht mitteilen durfte“ (Walser 37).  Hier befindet sich der zweite Vergleich mit dem Pferd, in dem Helmut sich selbst erkennt und dann droht „ja, ich fliehe...wer mir in den Weg stellt, wird...“ (Walser 37).  Halm glaubt den Weg vor sich frei zu haben, als er den Brief beginnt, doch je mehr er an Klaus schreibt, desto deutlicher wird es ihm, dass er diese Öffentlichkeit seines echten „Seins“ Klaus nicht bestätigen darf.  Deswegen wird mit der Warnung „wer mir in den Weg stellt“ von Helmut klargemacht, er müsse allein gelassen werden (Nordmann 35; Walser 37). 

Das Symbol des fliehenden Pferds kommt ebenfalls in der Szene auf dem Bodensee vor. Helmut und Klaus sitzen mitten auf dem ruhigen See: der eine ist das Pferd, der andere der Bändiger.  Weil sie völlig allein sind, nützt Klaus die Situation aus, um Helmut einen Monolog über seine krasse Lebensweise mitzuteilen, wobei Helmut vor lauter Angst sich tiefer nach innen kehrt.  Klaus durchschaut den Schein Helmuts und empfiehlt dass „es höchste Zeit [sei], dass [du] aufhör[st], dem Leben auszuweichen“ (Walser 117).  Helmut fürchtet diese Durchsicht von Klaus und auch das sich allmählich intensivierende Wetter; er sieht keinen Fluchtweg vor sich.  Halm wirkt wie das fliehende Pferd und Buch als bändigender „Rodeoreiter“ währenddessen der Sturm als Symbol des innerlichen Kampfes Helmut gilt (Nordmann 38).  Genau wie Helmut es in seinem früheren Brief prophezeite und Klaus in seinem Stolz bei der Bändigung des Pferdes verkündigte, lässt sich das fliehende Pferd (Helmut) nichts im Weg stellen: er stößt Klaus über Bord.

Schließlich ist Helmuts endgültige Flucht durch die Verbindung mit dem fliehenden Pferd zu verstehen.  Nach dem angeblichen Ertrinken von Klaus muss Helmut die Stärke, die Klaus vor ihm darstellte, selber aufnehmen.  Noch vor Helenes enthüllendem Monolog hat Helmut bis jetzt nichts Widersprüchliches erfahren, also glaubt er deswegen, dass die umgekehrte Lebensweise die Lösung seiner Probleme sei.  Plötzlich gibt es für Helmut „keine unverfängliche Minute mehr“ also überzeugt er Sabine, mit ihm eine für das Ehepaar ungewohnte Fahrradtour zu unternehmen (Walser 128).  Sein Weg wurde vorher gesperrt aber jetzt „bleibe er frei“.  Doch bevor Helmut und Sabine losfahren, tritt Helene in die Ferienwohnung der Halms ein und erzählt ihnen von dem wahren Leben der Buchs.  Jetzt erfährt Helmut dass auch dieser Weg doch nicht so frei ist.  Mit dem Tiefblick in das Scheitern einer nach außen gerichteten Flucht sieht er, dass weder seine alte noch seine neue Lebensweise gelingen wird (Pilipp 68).  Hier muss Helmut die Entscheidung treffen, auf einen mittleren Weg zu gehen; seine angedeutete Offenheit mit Sabine ist (er erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive, was Sabine bis jetzt nicht erfahren hatte) jener neue Versuch.  Braucht das Pferd also nicht mehr zu fliehen?

Kein bestimmtes Ende

Das Ende der Novelle, sowie seine Ähnlichkeit zu dem Kierkegaard’schen Epigraph, lässt sich mannigfaltig interpretieren – eine Tatsache, die die Geschichte besonders interessant für den Leser macht.  Zum Beispiel, gerade weil der letzte Satz den ersten wortwörtlich wiederholt, schließt ein Kritiker daraus, dass die Geschichte für einen geschlossenen Teufelskreis gehalten werden soll, wobei die angebliche Freiheit eines offenen Endes von dem festgelegten Anfang aufgelöst sei (Schote 60).  Andere sehen die neue Entschlossenheit von Helmut, Sabine überhaupt etwas mitzuteilen, als den Beweis des Ausbruches aus einem Kreise, dem Helmut bis jetzt nicht entkommen durfte (Sinka 54).  Helmut versteht durch seine Erfahrung, dass weder das, was er früher für das Richtige gehalten hatte, noch die spätere entgegengesetzte Alternative die richtige Lösung war; deswegen ist sein „Ausbruch“ mit Sabine eine radikal neue Lösung.  Noch andere Kritiker meinen, die fehlerhafte Klarheit, mit der Helmut an seine Weltanschauung glaubte, unterstreiche seine eigene Subjektivität und fordere die LeserInnen heraus, sich eines Gleichen bewusst zu werden (Pilipp 69; Plouffe 356).

Doch genau diese Vieldeutigkeit ließ Walser mit Absicht in seiner Novelle bestehen.  Das Epigraph von Søren Kierkegaard verrät den Zweck der Novelle, in dem nichts völlig schwarz oder weiß ist:

Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen bestimmte Personen entgegengesetzte Lebensanschauungen vortragen.  Das endet dann gerne damit, dass der eine den anderen überzeugt. Anstatt dass also die Anschauung für sich sprechen muss, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, dass der andre überzeugt worden ist.  Ich sehe es für ein Glück an, dass in solcher Hinsicht diese Papiere eine Aufklärung nicht gewähren. (zit. in Walser 7)

Man kann an verschiedenen Stellen mit beiden Hauptfiguren sympathisieren, und an anderen Stellen gar nicht, was keinen der beiden entweder als klaren Helden oder deutlichen Antihelden erscheinen lässt.  Walser äußerte diese Meinung in einem Gespräch über Ein fliehendes Pferd:

Also, ich merke, dass ich literarische Maschinen bauen muss, in denen nicht eine Kraft      triumphiert, in denen keine Stimme privilegiert ist, auch nicht sozusagen eigene            Autorenstimme. Also das wäre für mich das ideale Buch, in dem eine Stimme so stark ist   wie die Gegenstimme. (zit. in Plouffe 356)

Eine Bilanz zwischen den zwei Lebensweisen wird vom Autor nötig gemacht, weil keine Stimme die andere überwältigt.  Wenn eine Auflösung von der Leserin ersehnt wird, muss sie selber und ohne unbestreitbaren textlichen Entschluss festgestellt werden.

Doch die beste Möglichkeit einer eindeutigeren Antwort ist die Interpretation, dass Helmut nach jenem unklaren Gleichgewicht zwischen innen und außen greift, und dadurch einen Schritt in die getreue Richtung tritt.  Genau weil Helmut die Spuren von Veränderung aufweist, ist er auf dem mittlern Weg, der mit Absicht in der Handlung fehlte, der aber doch auch die Lösung seiner Probleme ist. 

Zusammenfassung

Mit den Figuren Helmut Halm und Klaus Buch schildert Martin Walser eine spannende Geschichte der menschlichen Identität, wo nichts völlig schwarz oder weiß ist, wo aber der Prozess der Veränderung durch einen riskanten ersten Schritt begonnen werden kann.  Meine Analyse hat auf die Ähnlichkeit bzw. Gegensätzlichkeit der „Fluchtversuche“ beider Figuren, die Bedeutung des Leitthemas des Pferds, und die beabsichtigte Vieldeutigkeit des Schlusses hingewiesen.  Durch den Verlauf der Erzählung wird auch eine Lösung für Helmuts Problem angedeutet, nämlich dass sein „mittlerer Weg“ der richtige sei.

 

Bibliographie

Doane, Heike A. “Innen- und Außenwelt in Martin Walsers Novelle ‘Ein fliehendes Pferd.’” German Studies Review 3.1 (1980): 69–83. Print.

Nordmann, Elmar. Erläuterungen zu Martin Walser, “Ein fliehendes Pferd.” Hollfeld: C. Bange, 1999. Print.

Pilipp, Frank. The Novels of Martin Walser: A Critical Introduction. Columbia, SC: Camden House, 1991. Print.

Plouffe, O. B. “Martin Walser’s Ein Fliehendes Pferd: A Pro-Narrative Writerly Text.” Seminar 36 (2000): 343–357. Print.

Schote, Joachim. “Martin Walsers Novelle ‘Ein Fliehendes Pferd.’” Orbis Litterarum 46.1 (1991): 52–63. Print.

Sinka, Margit M. “The Flight Motif in Martin Walser’s ‘Ein fliehendes Pferd.’” Monatshefte 74.1 (1982): 47–58. Print.

Walser, Martin. Ein fliehendes Pferd. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978. Print.

Wilkinson, Jane. “Writing Home: Martin Walser’s 'Ein fliehendes Pferd' as Anti-Tourist Literature.” Journal of Tourism and Cultural Change 4.3 (2006): 177–193. Print.

Zimmermann, Ulf. “Book Review: 'Ein Fliehendes Pferd'.” World Literature Today 53.2 (1979): 281. Print.

 

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