Der Begriff der Sprache in Emine Sevgi Özdamars Werken

Junhao Chen, New York University

Emine Sevgi Özdamar ist eine deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin türkischer Herkunft. Sie ist berühmt für die interkulturelle Darstellung in ihren Werken, in denen die Grenze zwischen Nationalität und Sprache verschwimmt. Sie besitzt die bemerkenswerte Fähigkeit, die Sprache zu hybridisieren, zum Beispiel wie im Titel ihrer Erzählungen „Mutterzunge“. Zunge bedeutet auf Türkisch auch Sprache. Mutterzunge ist ein hybridisiertes Wort. Es ist auch eine Kombination eines deutschen und türkischen Worts. Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage des Begriffs „Sprache“ in ihren Werken. Ich argumentiere, dass der Begriff der Sprache eine wichtige Rolle in ihren Werken spielt. Meine Meinung ist, dass Özdamar mit der deutschen Sprache durch exotische sprachliche Konstruktion spielt, was ein liminaler Raum für sie ist, sich von der Gewalt der Sprache zu erholen und die Beziehung zwischen der Sprache und dem Staat zu  destabilisieren.  

In ihrem Aufsatz „Mutterzunge“ betont und wiederholt die Erzählerin die Tatsache, dass sie ihre Muttersprache verloren hat. Bevor es die These der Erzählerin zu verstehen gilt, ist es wichtig, die Geschichte der Türkei und die theoretische Entwicklung des Begriffs „Muttersprache“ zu verstehen. Bevor der Begriff „Muttersprache“ erfunden wurde, meint Yasemin Yildiz in ihrem Buch „Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition: “[the universalist conception of languages] deemed languages to be essentially equivalent and their specific forms only an irrelevant surface feature” (7). Dann wurde eine neue Perspektive von den Romantikern in Deutschland geschaffen. Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher achteten auf die Spezifität der Sprache und die Beziehung zwischen der Sprache und dem Individuum. Sie meinten, dass die Muttersprache an das Individuum und die Nationalität gebunden und ein einzigartiges Eigentum sei, das nur dem Bürger und dem Staat gehöre.

Diese Interpretation des Begriffs wurde 1923 bei der Gründung der türkischen Republik eingesetzt. Bevor die Republik Türkei gegründet wurde, war das Osmanische Reich ein mehrsprachiger und multiethnischer Staat. Die Staatssprache war eine Mischsprache, “incorporating a large amount of vocabulary and even syntax and morphology from Arabic and Persian, which differed significantly from the Turkish spoken by the mass of the Anatolian population—those who later made up much of Turkish citizenry” (Yildiz, 150). Trotzdem entwickelte die neue Republik eine neue Sprache, um  den Staat zu vereinigen. Das Schriftsystem wurde vom arabischen Alphabet zum lateinischen Alphabet umgeändert. Die Veränderung, meint die Erzählerin im Aufsatz „Mutterzunge“, tue ihrer Familie Gewalt an und wäre ein Einbruch in ihre Familie. Sie erzählt von dem folgenden hypothetischen Dilemma: „Wenn mein Großvater und ich stumm wären und uns nur mit Schrift was erzählen könnten, könnten wir uns keine Geschichten erzählen“ (Mutterzunge, 14). Die neue Sprache könne der Familie schaden und wirke sich nachteilig auf die Familie aus. Ihre Familie aber sei nicht besonders betroffen gewesen, weil sie nur die gesprochene Sprache anwenden konnte, als sie mit ihrem Großvater und ihrer Großmutter kommunizierte. Als sie in der Türkei war, war dies kein großes Problem. Erst als sie in Deutschland ankam und einen Brief schreiben wollte, um ihre Situation zu erklären, wurde es zu einem Problem. Ohne einen Übersetzer waren ihre Großeltern nicht in der Lage, den Brief zu verstehen. Die Erzählerin meinte: „Ich werde Arabisch lernen, das war mal unsere Schrift, nach unserem Befreiungskrieg 1927, verbietet Atatürk die arabische Schrift und die lateinischen Buchstaben kamen“ (14). Sie wollte ihre Muttersprache lernen und einen Teil der türkischen Geschichte erhalten. Ihr Verlust der Muttersprache und der Wille, die Muttersprache zu lernen, verstießen allerdings gegen das staatlich verordnete Schweigen.

Neben der Sprachlosigkeit im Hinblick auf das Sprechverbot der arabischen Sprache erzählt sie auch von der Verbindung zwischen der neuen Sprache und der Staatsgewalt. Yildiz erzählt, dass die Republik Türkei im Jahr 1970 ein Chaos war. Die Linken wurden von der Regierung verfolgt. Die Erzählerin beschreibt eine Szene, in der Mahirs Bruder seine Hinrichtung mitbekam, „als ob er in seinem Mund was Bitteres hatte und es nicht rausspucken konnte“ (Mutterzunge, 14). Die historische Figur Mahir war ein radikaler Studentenführer, der von der Polizei getötet wurde. Yildiz interpretiert die Szene als: „What seems to be stuck and become bitter in the young man’s mouth is language, specifically Turkish, the language in which this scene presumably takes place. In the context of this scene, the bitterness is produced by state violence, political oppression and familiar loss“ (Yildiz, 158). Sie meint, dass sie die neue Sprache, die auf lateinischen Buchstaben basiert, mit diesem Trauma assoziiert. Mahirs Tod beschreibt ein anderes Ausmaß der Gewalt der Sprache. Das Schweigen, also dass Mahirs Bruder nicht Deutsch sprechen will, protestiert gegen die Sprache und die körperliche Gewalt des Staates.

Obwohl die Sprache hier brachiale Gewalt darstellt, zeigt Özdamar, dass sie auch einen therapeutischen Effekt haben kann. Im Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ erzählt Özdamar die Geschichte einer jungen Frau, die als Gastarbeiterin nach Deutschland emigriert. Anhand dieses Beispiels kann gezeigt werden, wie die Erzählerin versucht, die Verfremdung beim Erreichen des neuen Lands, dessen Sprache sie nicht spricht, zu reduzieren. Der Roman beginnt mit dem Titel „DIE LANGEN KORRIDORE DES FRAUENWONAYMS.“ Das Wort „Frauenwonaym“ ist kein deutsches Wort. Das deutsche Wort heißt „Frauenwohnheim.“ Der Grund dafür, das Wort „Frauenwonaym“ so zu schreiben, ist dass Mahirs Bruder die Schwierigkeit für die jungen Frauen, das Wort richtig auszusprechen, darstellen möchte. Dennoch geben sie nicht auf. Sie formulieren ein neues Wort, um den Ort, an dem sie leben, zu beschreiben. Dieser Trick scheint klug. Sie versuchen sich an die Gesellschaft zu assimilieren.

Die Erzählerin weiß, dass sie deshalb auch einmal Berlin erkunden muss. Sie benutzt eine Metapher, um ihre Situation zu beschreiben. Sie und ihre Freundinnen sind in einem Film. Aber das Bild ist eingefroren und stehengeblieben. Um den Film weiterspielen zu lassen, müssen sie und ihre Freundinnen gehen. Sie schreibt: „Wir hatten unser Wonaym, und dieses Wonaym war nicht Berlin. Berlin begann erst, wenn man aus dem Wonaym herausging, so wie man ins Kino geht, einen Film sieht und mit dem Bus wieder zurückkommt und den anderen beim Ausziehen den Film erzählt“ (Die Brücke vom Goldenen Horn 61). Aber Berlin ist fremd für sie. Man könnte behaupten, dass diese Frauen die Sprache benutzen, um sich Berlin weniger fremd zu machen. Als sie ihr Berlin erkundet, sieht die Erzählerin einen Bahnhof. Sie nennt ihn „den zerbrochenen Bahnhof. Das türkische Wort für >zerbrochen< bedeutete gleichzeitig auch >beleidigt<. So hieß er auch >der beleidigte Bahnhof<“ (24). Das Wechseln zwischen den Sprachen ist auffallend. Die Erzählerin übersetzt das deutsche Wort „zerbrochen“ ins Türkische. Dann übersetzt sie das türkische Wort ins Deutsche und kombiniert beide Wörter, um ein neues Wort zu erfinden.

Jetzt lebt sie in Deutschland, dessen Landessprache Deutsch ist. Ihre Muttersprache ist Türkisch und markiert sie als eine Ausländerin. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das kombinierte Wort die Beziehung zwischen den gebürtigen deutschen Bürgern und deren Muttersprache destabilisiert. Der Begriff „Übersetzung“ ist hier von zentraler Wichtigkeit. In ihrem Buch „Against World Literature: On the Politics of Untranslatability“, argumentiert Emily Apter, dass die Übersetzung die Vorlage des originalen Buches widerspiegelt und zu einer Art beglaubigtem Plagiat wird. In unserer Situation spiegelt der Begriff der „beleidigte Bahnhof“ das ursprüngliche Wort der „zerbrochene Bahnhof“ wider. Apter meint: „translation offers a particularly rich focus for discussion of creative property and the limits of ownership because it is a peculiar genre, one that, counter to Romantic values and myths of avant-garde originality, exalts the art of the copy, flaunts its derivativeness, and proudly bears the lead weight of predication on literary antecedent” (Apter, 303). Obwohl sie über die Übersetzung aus einer Makroperspektive diskutiert, passt ihre Theorie zu unserer Situation. Die doppelte Übersetzung schränkt das Eigentum der Sprache und des Wortes ein. Das Deutsche kann nicht ganz Eigentum des Wortes und der Sprache übernehmen.

Die Sprache wird laut Apter “something on the order of what I call l’ oeuvre oeuvre, the worked and working text” (292). Die Sprache bleibt nicht stabil, sondern entwickelt sich immer fort. Diese sich entwickelnde Beschaffenheit destabilisiert die Verbindung zwischen den Bürgern und der Sprache. Dies wirft die Frage auf, wem der Begriff „der beleidigte Bahnhof“ gehört. Zuerst bewirkt das Wort, dass die Erzählerin sich nicht so fremd in Deutschland fühlt. Der Bahnhof wird ihr Lieblingsort. Das Wort und der Ort spielen auch eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Es ist der Ort, an dem sie sich die Türkei vorstellt.

Das Wort ist nicht abstrakt, sondern sinnlich. Als sie den beleidigten Bahnhof besucht, läuft sie an einer Telefonzelle vorbei. Während die Sprache auch Trauma und die Gewalt umfasst, transzendiert die Sprache diese Gewalt und wird zu einer sinnbildlichen Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei. Als die Erzählerin aus dem Frauenwohnheim geht, besucht sie die Telefonzelle. Sie und ihre Freundinnen „sprachen aber weiter laut, wenn wir an unseren Telefonzellen neben unserem beleidigten Bahnhof vorbeigingen, damit uns unsere Eltern in der Türkei hören konnten“ (Die Brücke vom Goldenen Horn 38). Sie erzeugt einen Platz, an dem die Grenze zwischen Deutschland und der Türkei vermischt wird und das Heimweh vertrieben werden kann. Langsam beginnt sie, sich der Gesellschaft anzupassen. Die Rolle, die die Telefonzelle in ihrem Leben spielt, wird weniger beschwerlich und leichter. Zum Schluss bemerkt sie: „die Telefonzelle, die neben unserem beleidigten Bahnhof stand, vor der wir früher leise oder laut sprachen, damit unsere Eltern in der Türkei uns nicht hören oder hören sollten, war jetzt nur die Telefonzelle, von der wir das Studentenwohnheim Eichkamp anriefen“ (82). Letztendlich spielt die Telefonzelle keine wichtige Rolle mehr in ihrem Leben. Sie weist bloß auf ihre Anpassung an die Gesellschaft hin und auf einen eingebildeten Ort, an dem sie mit ihren Eltern sprechen kann. Das sinnliche Wort „Bahnhof“ umfasst die Erfahrung des Fremdseins der Gastarbeiterin, die versucht, sich an die Gesellschaft zu assimilieren.

Als die Erzählerin anfängt, Deutsch zu lernen, lernt sie „die Schlagzeilen auswendig“ (Die Brücke vom Goldenen Horn 11). Ihre Weise, Deutsch zu lernen und zu sprechen, ist auch aufwändig. Jeden Morgen übt sie die Sätze, die sie nicht verstehen kann und antwortet am deutschen Zeitungsstand „mit auswendig gelernten Zeitungschlagzeilen gegen das Kopfkissen: „HARTE BANDAGEN/ GUCKEN KOSTET MEHR/ SOWJETS BLIEBEN NUR ZAUNGÄSTE” (38). Obwohl ihre Antwort plausibel erscheint, stellt diese nur eine andere Möglichkeit dar, eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schaffen. Bevor sie nach Deutschland kam, war die Erzählerin eine Schauspielerin. Sie gewöhnt sich daran, den Text auswendig zu lernen. Sie antwortet ihrer Mutter auch durch den Text: „Ich werd’ erstaunt euch Autwort geben. Die schöne Helene verriet mir ihren Plan, „aus diesem Wald zu flüchten”, wenn ihre Mutter sie nicht verstehen kann, warum sie eine Schauspielerin sein muss (12). Für die Erzählerin ist Theater ihr Leben. Wenn sie am deutschen Zeitungsstand mit Zeitungschlagzeilen antwortet, ist sie auch performativ. Sie erinnert sich daran, dass sie eine Schauspielerin ist. Durch ihre Aufführung verbindet sie die Gegenwart der Gastarbeiterin mit der Vergangenheit als Schauspielerin.

Zuletzt argumentiere ich, dass Özdamars Werk auch ein Gegensatz zu Schleiermachers Meinung ist: „[R]ather, every writer can produce original work only in his mother tongue [Muttersprache], and therefore the question cannot even be raised how he would have written his works in another language” (Schleiermacher qtd. in Yildiz 7-8). Özdamar kommt aus der Türkei und schreibt auf Deutsch. Sie ist sogar eine berühmte deutschsprachige Schriftstellerin. Als ihre Werke ins Türkische übersetzt werden, bekommt sie wenig Lob. Die Literaturkritiker meinen, dass ihre deutschsprachigen Werke besser seien als deren türkische Übersetzungen. Es ist gut möglich, dass Leute die Fremdsprache können und originale Werke produzieren. Hier wird deutlich, dass Schleiermachers Meinung nicht vollkommen richtig ist.

Abschließend lässt sich feststellen, dass der Begriff der Sprache in Özdamars Werken interessant ist. Özdamar stellt durch ihr poetisches und intertextuelles Zusammenspiel zwei Wesen der Sprache dar: gewalttätig und mitfühlend. In ihrem Werk „Mutterzunge“ steht die Gewalt der Sprache aufgrund der Sprachreform in der Türkei an erster Stelle. Die Sprachreform tut der Familie Gewalt an, wenn die Leute nur auf das Schreiben vertrauen können. Trotzdem kann die Schriftstellerin eine andere Seite der Sprache aufweisen. Die Schriftstellerin beschreibt eine Erzählerin, die ein deutsches Wort mit einem übersetzten Wort kombiniert, um ein neues Wort zu erstellen. Durch ihren Trick wird eine Fremdheit in der Sprache hergestellt. Die Fremdheit schafft Effekte für sowohl Erzählerin als auch deutsche Leser. Das neue Wort destabilisiert die Beziehung zwischen gebürtigen deutschen Bürgern und deren Muttersprache. Dieses Wortspiel schafft eine sinnliche Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei. Am Ende verbindet ihre Weise Deutsch zu lernen, ihre Gegenwart als Gastarbeiterin mit der Vergangenheit als Schauspielerin. Die Fremdheit in der Sprache hat auch einen doppelten Reiz für die deutschen Leser durch ihren poetischen Rhythmus. Die Sprache, die die Erzählerin benutzt, löst eine feste Beziehung zwischen Nationalität und Sprache auf. Der Leser liest ein Buch, dessen Sprache bekannt und zugleich fremd ist. 

Works Cited: 

Apter, Emily S. Against World Literature: On the Politics of Untranslatability. London: Verso, 2013. Print.

Özdamar, Emine S. Die Brücke Vom Goldenen Horn: Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Print.

Özdamar, Emine S. Mutterzunge: Erzählungen. Berlin: Rotbuch, 2006. Print.

Yildiz, Yasemin. Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press, 2012. Internet resource.

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